ERKENNTNIS 



Nie war ich so erschüttert beim Anblick des Meeres. Nie erschienen mir die Wasser so unendlich, so unergründlich und geheimnisvoll. Wie der Urgrund allen Seins. Wie Leben und Tod. Wie klein sind wir Menschen doch, wie vermessen angesichts der Gewalten, die wir zu beherrschen wünschen. Und wie mutig zugleich, ihnen ein Stück abzuringen und sie uns untertan zu machen.

Erhaben legte sich eine Melodie auf mich nieder gleich dem Flügelschlag eines Schmetterlings, der scheu sich näherte. Sollte die Liebe unvergleichlich sein, dann mußten sich vom ersten Augenblick an Kolibris auf den Schultern niedersetzen.

In manchen Augen findet man sich. In vielen nicht. Alles was geschieht, ist einmalig und doch nur ein Gleichnis einer heiligeren Ordnung. Wie mutig wir doch dem Leben auf der Spur sind, nimmer müde, das Verlorene zu suchen: Inseln, labende Schatten, erfrischende Kühle. Und dann enteilen wir wieder den schützenden Ufern, hinaus in die Tiefe und Verlorenheit der Meere.

Und du warst meine Insel - ich deine Wasser. Erschüttert lag ich in deinen schützenden Buchten. Vom Wasser an Land getragen. Deine kühlenden Schatten wie labende Küsse auf wunder Haut, von Sonne verwöhnt und Luft gestreichelt.

Wenn dich die Erinnerungen einholen, dann ist es Zeit. Der Mensch erlebt zweimal, im schnellen Takt des Momentanen und in einer kaum erträglichen Langsamkeit der Erinnerung.

Flugzeuge sind schnell. Wie glitzernde Vögel, getragen durch menschlichen Verstand. Und doch so zerbrechlich. Wie Herzen, die den großen Flug nie wagten, deren Schwingen vor dem großen Flug gebrochen wurden.

Wir wagten es - drohende mahnende Wasser unter uns. Und doch so schweigsame, die Geheimnisse bewahren können. Schien es mir manchmal, daß ich bis zum Urgrund vorgestoßen war, so überraschten mich immer wieder die brechenden Wogen. Und das Ufer akzeptierte die formende Kraft. Wie die schöpferische Kraft des Bildhauers, der seinem Werk den Atem einhaucht.

Jede Woge ein neues Leben. Jede ein Sterben und ein neu geboren werden. Ein Urschrei aus Blut, Schleim und Salz. Tränen in meinen Augen, Salz auf meinen Lippen. Die Haut fiebrig und feucht. Ein blutendes pulsierendes Herz der Erinnerung, ein zweites geboren aus Sehnsucht.

Ohne Sehnsucht kein Wagemut für neue Ziele. Ohne Ziel kein Weg. Ohne Weg keine Angst. Ohne Angst kein Du. Ohne Du keine Sehnsucht, keine Erfüllung, keine Hoffnung, kein Leben.



Copyright © 1998 by Irmingard A. D. Kotelev. All rights reserved

 

 

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