VENEDIG

 

Aus den Nebelschleiern taucht die Piazza San Marco mit dem Campanile auf wie das Bühnenbild in einer sinnenfrohen Operette. Gleich wird das Vaporetto, die Straßenbahn auf Wasser, an der Mole San Marco anlegen.

Eine fahle Sonne kämpft sich ihre goldene Bahn an diesem Wintertag durch die Nebelbänke,
die sich träge auf der Lagune ausbreiten. Eine seidene Kühle schwebt über Venedig. Der trübe Canal Grande, die Lebensader Venedigs, umklammert und teilt die Stadt wie ein umgedrehtes S. Schwarzglänzende Gondeln, mit einem silbrig funkelnden Bug bewehrt, tänzeln zwischen den Anlegepfosten, die wie Zuckerstangen aussehen.

In den dunklen Gassen hallen die Schritte. Plötzlich huschen Schatten durch milchige Lichter und werden gleich wieder von einem Wattemeer verschluckt. Nur gedämpfte Stimmen zerreißen die Stille und lassen für Sekunden die Melancholie dieses Ortes vergessen. Ein Geruch von totem Fisch beleidigt die Nase.

Hinter zerfallenen Fassaden erahnt man jahrhundertealte Geschichten um Reichtum, Macht und Liebe. Sich gefährlich neigende Häusermauern erinnern daran, daß Venedig einmal wieder ins Meer hinabsinkt, aus dem es aufstieg. Hinter einem vergitterten Fenster leuchtet golden ein schwerer Lüster, dessen blasses Licht einen zerschlissenen Gobelin beseelt.

Hier ist die Zeit stehengeblieben. In düsteren Häusernischen spürt man noch den Hauch der Pest. Hinter vermodernden Türen tummeln sich nur Ratten. Das Wasser umspült ausgewaschene Steintreppen, andere sind mit einem glitschig-grünen Algenteppich überwachsen. In dunklen Gassen trocknet keine Sonne die von Haus zu Haus gespannte Wäsche. Zierlich geschwungene Balkone klammern sich an alternde Häuser.

Noch immer ist Venedig ein Wirrwarr von Gäßchen, die plötzlich am Wasser enden oder sich durch Häuserfluchten quälen. Über 400 Brücken überspannen die Lagunenarme und unzählige Piazettas laden zum Verweilen ein. Autos, Radfahrer und selbst Kinderwagen gehören hier nicht zum Stadtbild. Man bewegt sich nur zu Wasser und zu Fuß. Es gibt keine Eile, nur die tuckernden Vaporettos erinnern an Großstadthektik. Selten beleben Bäume die Insel aus Stein und Wasser. Und nach Tagen endloser Wanderungen über Brücken und durch Gassen befällt einem eine Sehnsucht nach Wäldern. Dann enteilt man den düsteren Steinen, um doch bald wieder dorthin zurückzukehren.

Venedig - das ist ein Zaubermittel, der betörende Rausch eines schweren Parfüms einer fernen Geliebten, die einen nicht vergessen läßt. Filigrane Ornamente erinnern an zarte Buraner Spitze, verwitterte Fassaden ermahnen an Vergänglichkeit. Doch selbst die Zerstörung kreiert neue Farben: Fresken entstehen auf brüchigem Kalk, Tizian und Tintoretto schaffen neue Werke.

Damals wie heute trifft sich die ganze Welt auf der Piazza San Marco, dem schönsten Salon Europas, wie Napoleon treffend sagte. Der Glanz der Serenissima, der Erhabenen, wird nie verlöschen. In einem Café an der Piazza genießt man den sündteuren Cappuccino, während man sich von den Gemälden an der Wand in die Welt des Carneval in Venedig entführen läßt. 

Bella Venezia, du zeigst dich, willst umschwärmt werden. Aus allen Landen strömen sich herbei, dir zu huldigen, deine Schönheit zu preisen: pelzbehangen die kühlen Schönen und weiß geschminkt die Statisten deines Festes. Wie eine alternde Kurtisane umgarnst du alle mit deiner Mischung aus geheimnisvoller Melancholie und überschäumender Lebensfreude. Dann tragen die Gondeln keine Trauer mehr, die Luft ist geschwängert von Konfetti, die Karnevalsmasken wirken nicht mehr bedrohlich. Es ist alles nur ein Spiel, ein Theater wie das Leben. Man verkleidet sich, schlüpft in eine andere Rolle. Goldoni schreibt neue Possen, wenn du dich mit einem schlauen und pfiffigen Venezianer unterhältst. Er versteht es an alten Bräuchen festzuhalten und trotzdem sich dem Leben zu öffnen.

Und wenn du dich kokett hinter einem spitzenbesetzten Fächer versteckst, um dich der betörenden Serenissima zu erwehren, dann laß dich bei der Hand nehmen, damit du dich Venedig ganz hingeben kannst.

Und wenn an stürmischen Tagen die Piazza zweimal täglich von der Lagune überschwemmt wird und "die Hühner nach den Fischen picken", weil die Industrie in Mestre und Marghera auf dem Festland Venedig aus dem Gleichgewicht bringen und die Stadt zu ertrinken droht, dann steig in eine Gondel, man wird dich sicher bis zum nächsten Palazzo geleiten.

Ci vediamo a presto, bella Venezia! Wir werden uns bald wiedersehen!
 

Copyright © 1999 by Irmingard A. Kotelev. All rights reserved

 

 

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